Wahre Vogelhaus-Geschichten

Die Amsel, die nicht gehen wollte

17. Juli 2011. Es ist Abend und wir freuen uns auf ruhige Stunden (denkste!)
- da ruft eine Freundin an. Eine Freundin, die genau wie ich alle Vogelnotfälle dieser Umgebung geradezu magisch anzuziehen scheint. Und es geht natürlich auch um einen Notfall! Kurz darauf kommt sie mit einem halbnackten Etwas, einem verletzten Amselkind, bei uns an, und hat auf der Fahrt zu uns auch gleich ein stacheliges, stinkendes Etwas vom Straßenrand gelesen – einen Igel. Ein Antibiotikum und ein Schmerzmittel hatte sie schon gleich dabei, denn das Amselkind war von einer Katze aus dem Nest gezerrt und verletzt worden. Das war's dann mit dem ruhigen Abend…

Der Igel hat es leider nicht geschafft. Er muss schon länger sehr krank gewesen sein, und selbst Infusion und Antibiotikum bei der Tierärztin konnten nicht mehr helfen. Nach zwei Tagen mussten wir ihn im Garten beerdigen.
Das Amselchen aber war nach 7 Tagen über den Berg!
Ich kuschelte es abends in ein Zewatuch gewickelt an mich, um ihm die fehlende Wärme und Zuwendung zu geben – es war ja noch so klein. (Auf dieses abendliche Kuscheln bestand es auch später noch.)

Gelbwangenamazone Chico reagierte diesmal recht eifersüchtig, obwohl er solche Geschichten ja gewohnt ist. Unser greiser Nymphensittich Toc dagegen freute sich über den Neuzugang und ließ das Amselkind sogar in seinem Heim sitzen.

Die kleine Amsel entwickelte sich prächtig; bald zog sie von ihrem Karton in einen kleinen Käfig, dann in einen Papageienkäfig und von dort in eine große Voliere.
Ihr Name war "Amsel". Warum auch nicht? Amsel klingt süß, finde ich. Und sie sollte ja, wenn sie "groß und stark" geworden ist, wieder zurück in die Freiheit.
Ihre Jugend verlief ähnlich wie bei Quax, der Elster (andere Geschichte, auch hier nachzulesen): Wir lernten Heimchen fangen, Würmer ziehen, Beeren zerkleinern, wir machten Flugübungen und lernten eine Art gemeinsame Sprache. Ich "rede" mit all meinen Zöglingen, damit sie später wissen, wo ich bin und in der Not Zuflucht finden können.

Mit Amsel in der Hand oder auf der Schulter ging es dann ums Haus herum, um ihr das künftige Revier vertraut zu machen. Wir waren oft draussen. Amsel lernte, in der Vogeltränke zu baden; sie entdeckte, wo die leckeren Trauben hängen und dass man sich unter einer Blaufichte herrlich verstecken kann.
Bald stellten wir im Garten einen Auslauf auf. Nun konnte Amselchen den ganzen Tag draussen verbringen und war doch sicher vor Hund und Katz.
Irgendwann liessen wir dann den Auslauf oben offen, so dass sie herausflattern konnte – das tat sie auch mit großer Lebensfreude!

An den vielen kleinen Häufchen sah man sofort, wo sie überall herumgekommen war. Alles war ihr Revier und wurde erkundet, bald spazierte und flog sie durch die Terrassentür rein und raus aus dem Haus, wie sie lustig war. Irgendwann mussten wir die Terrassentür geschlossen lassen, weil Amselchen einfach ÜBERALL war.
Auch auf den Käfigen der Amazonen.

Sie wohnte nun tagsüber frei draussen auf der Terrasse und trieb dort ihr Unwesen:
Pflanzerde wurde aus dem Sack gepickt, Tomaten von den Stauden gezupft, Schnürsenkel aus den Schuhen gezogen und überall schwarze Beeren verteilt – was eine herrlich gesprenkelte Terrasse ergab!
Wann immer ich im Garten auftauchte, flog Amselchen hinter mir her, freudig piepend und rufend. Stolz, eine so tolle und mutige Amsel zu sein und mit amseltypisch erhobenem Schwänzchen.
Dabei war sie eigentlich ein kleiner Schisser, unsere Amsel!
Immer wieder flog sie auf die Terrasse zurück und traute sich nur weiter weg, wenn ich dabei war. Doch längst war sie ausgewachsen und musste bald ausgewildert werden....

Da bemerkte ich bei Amselchen ein Husten, das täglich zunahm! Als auch die Atemwege anfingen zu quietschen, fuhr ich mit Amselchen zur Tierärztin.
Vermutete Diagnose: Lungenentzündung, Infektion! Schon wieder Antibiotika!
Draussen in der Natur hätte ihr Quietschen sie an ihre Feinde verraten…
Also war 1 Woche Volieren-Arrest angesagt.

Aber auch diese Phase überstand die Amsel prima und wurde wieder ganz gesund. Auch vom einst verletzten Flügel war nicht mehr viel zu sehen. Obwohl er etwas anders aussah als der gesunde Flügel, beeinträchtigte er sie beim Fliegen überhaupt nicht. Doch sie wich nicht von ihrer geliebten Terrasse! Ihr Lieblingsplatz war die Türschwelle – die Verbindung quasi zwischen Freiheit draussen und Geborgenheit drinnen. Tagsüber draussen, holte ich sie nachts herein in ihre Voliere, die wie ein kleiner Wald ausgeschmückt war. Dort wurde sie zur Kampfamsel und verteidigte schnabelklappernd und hackend ihr Revier gegen meine Hand.

Nun war Amselchen schon viele Wochen bei uns. Mussten wir sie denn rausschmeissen?? Sie dachte gar nicht daran, in die Freiheit zu fliegen und wich nicht von der Terrasse! Nur wenn wir auch draussen waren.
Kann man sich das vorstellen?
Während wir uns über die Hecke mit Nachbars unterhalten, kommt plötzlich freudig piepsend eine Amsel geflogen und landet auf meinem Kopf! Sowas hat auch der Nachbar noch nicht gesehen.

Wenn wir im Garten waren, kam ständig irgendwoher Amselchen angeflogen oder schoss lebensfroh wie eine Rakete an uns vorbei – um mir dann aufgeregt mitzuteilen: "Guck mal, ich bin wieder da! Schau nur, was ich alles kann!!"
Abends aber war dann allerdings vorbei mit wilder Amsel. Dann flatterte und pickte sie von aussen an die Scheiben und gab piepsend zu verstehen: "Lasst mich rein! Saukalt!!" Klar holte ich sie dann rein. Roland hatte immer schon Regenwürmer ausgegraben als Stärkung von dem aufregenden Tag.

Doch wir können sie nicht auf Dauer nachts behüten. Sie muss sich auch an die Dunkelheit und an Mistwetter gewöhnen, um fit zu werden für den Winter. Sie muss lernen, sich in der Natur ein sicheres Schlafplätzchen zu suchen. Ob sie – oder wir – das will oder nicht….

Es gibt Tage, da blutet einem das Herz.
So wie der Tag, an dem ich trotz Regen und Sturm das Amselchen rausbringen musste. Sie wollte nicht und flog immer wieder zurück ins Haus. Ich musste sie gegen ihren Willen in die Hand nehmen und quasi rausschmeissen….
Ich litt fürchterlich und lief den ganzen Tag mit Bauchweh herum vor lauter Sorge und schlechtem Gewissen. Immer wieder schaute ich raus – war sie irgendwo zu sehen?
Braucht sie Hilfe??

Als ich am Nachmittag zaghaft in den Wolkenhimmel rufe, hörte ich von weit her ganz leise vertraute Pieptöne. Die Töne wurden lauter und, ja, da flatterte etwas!
Amselchen kam piepend angeflogen, Gottseidank!! Sie hatte ihr erstes Unwetter erlebt und überlebt!

Aber diesmal blieb sie nur kurz, pickte eine Beere vom Boden und ließ mich mit meinem eilig herbeigeholten Regenwurm stehen. Oh, man ist also eingeschnappt!?
Doch es war ein weiterer, wichtiger Schritt in die Freiheit. Und wir hatten beide, wenn auch schmerzhaft, gelernt loszulassen.

Als es zu dämmern begann, wollte ich die Amsel wie jeden Abend hereinholen.
Ich hörte sie von weit weg piepsen – aber sie kam nicht auf mein Rufen. Auf der großen Wiese entdeckte ich sie dann im Gras pickend. Recht widerwillig hüpfte sie auf meine Hand – und es war alles anders als sonst: Sie blieb nicht schutzsuchend sitzen und ließ sich heimtragen, nein – sie flog hoch in den großen Kirschbaum des Nachbarn! So schwer es mir fiel, ich lockte sie nun nicht mehr und ging ohne sie ins Haus.

Es war der 7.9.2011 und die erste Nacht unserer Amsel draussen in der Freiheit nach fast zwei Monaten Geborgenheit und Sicherheit. Ich schlief nicht gut in dieser Nacht…
Aber Amselchen hatte die Nacht überstanden, den Tag darauf trotz Regenwetters und auch die nächste Nacht!
Von da an war sie oft weiter weg unterwegs und konnte meine Rufe nicht mehr hören. War sie in der Nähe, kam sie mich noch kurz besuchen, um dann aber wieder ihrer Wege zu gehen. Es war der 9.9.2011.

Dann mussten wir für zwei Tage fortfahren…. und Amsel kam danach nicht mehr auf mein Rufen. Meine Nachbarin hatte sie nochmal gesehen, und erzählte lächelnd, sie habe ihr Rosinen aus der Hand gepickt.
Ich habe Amselchen nie mehr gesehen.
Aber ich wusste, dass sie in der Natur zurecht kommt, so sehr ich sie vermisste.

Zu jener Zeit hielten sich alle Amseln der Umgebung hauptsächlich im nahen Wald auf. Doch jetzt, da es auf den Winter zugeht, sieht man sie allmählich alle wieder.
Wir befüllen fleissig unseren Vogelfutterplatz und spähen jeden Tag nach unserer Amsel. Wie mag sie nun aussehen? Würden wir sie überhaupt erkennen – und sie uns? Man kann ja mal rufen…


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